Page 4 - Schulblatt Nr. 5 2014
P. 4


4 F O K U S Schulblatt Thurgau 5 • Oktober 2014








HINTERGRUND



Schule f̈rs Gehirn!


«Zu den wichtigsten Ein- 

sichten der Lernforschung 

geḧrt der unmittelbare Lernen findet im Gehirn statt. Was sagen neurolo- 

gische Erkenntnisse zur Zukunft unserer Schule? F̈r 
Zusammenhang zwischen 
den Autor wird sie immer weniger mit der heutigen 
Lernen und k̈rperlicher 
Schule gemein haben.
Bewegung.»

Richard David Precht, Philosoph und Publizist


A

uch wenn das Geheimnis der Intelligenz uns noch motivierter Erwachsener. Die Gr̈nde, warum so viele Scḧler 

immer verborgen ist, so wissen wir heute gleichwohl (zunehmend schon in j̈ngerem Alter) so demotiviert, lustlos 
sehr viel mehr ̈ber das Lernen als vor dreissig Jahren.
und abgelenkt wirken, haben sowohl mit der Schule zu tun als 

Elementare Lernvorg̈nge im Gehirn k̈nnen gegenẅrtig ziem- auch mit den Elternḧusern und der sozialen Umwelt heutiger 
lich exakt beschrieben werden und auch die Bedingungen, unter Kinder. Der erste Grund ist die Reiz̈berflutung. Eine einzige 
denen Lernen besonders erfolgreich ist oder eben nicht. Und Wochenzeitung entḧlt heute vermutlich mehr Informationen, als 

wir kennen die Herausforderungen sehr viel besser, vor denen ein Bauer im 17. Jahrhundert in seinem ganzen Leben zu beẅl- 
das menschliche Gehirn in seinen verschiedenen Entwicklungs- tigen hatte. Und die optischen und akustischen Signale, denen 

phasen steht und was diese Anforderungen mit unserem Gehirn die Gehirne unserer Kinder im digitalen Zeitalter in einem Monat 
machen. Sollten wir all dieses Wissen in die p̈dagogische Praxis ausgesetzt sind, d̈rften die des Bauern ebenfalls hundert- 

umsetzen, um unseren Schulunterricht «gehirngerecht» zu ge- fach ̈bertreffen. Und anders als noch zu Anfang des 20. Jahr- 
stalten – und ich sehe keinen Grund, warum wir unsere Schulen hunderts bietet die Schule damit nicht von sich aus allzu viel 
nicht auf die Ḧhe des Wissens bringen sollten –, so f̈hrt dies zu Aufregendes. Der zweite Grund f̈r so viele demotivierte und 

gewaltigen Ver̈nderungen. Von Natur aus bringen Kinder zwei lustlose Scḧler ist dagegen hausgemacht – und wie ich zeigen
herausragende Eigenschaften mit. Sie sind unb̈ndig neugierig, 

und sie lernen sehr schnell – viel schneller und viel mehr als Er- 
wachsene. Ihr Ged̈chtnis und ihre Auffassungsgabe sind dem Richard David Precht: «Dass Kinder und Jugendliche eine enorm hohe intrinsische Motivation

ihrer Lehrer meist ebenso ̈berlegen wie ihre Wissensfreude. 
Unsere allẗgliche Situation in der Schule ist somit dadurch ge- 
kennzeichnet, dass Menschen, die langsam lernen bei gemeinhin 

eher m̈ssiger Neugierde, auf Menschen treffen, die sehr schnell 
sehr viel lernen und behalten k̈nnen mit gemein hin unb̈ndiger 

Neugierde. Die erste Gruppe sind Lehrer und die zweite Scḧler. 
Soweit die Natur der Sache. Mit dem, was an unseren Schulen 

vor sich geht, hat sie freilich nur sehr eingeschr̈nkt etwas zu tun. 
Wer einmal eine Schulklasse mit F̈nfzehnj̈hrigen beobachtet 
hat, am besten in der sechsten und siebten Schulstunde, sieht 

die Dinge vermutlich anders. Unb̈ndige Lernfreude? Rasche 
Auffassungsgabe? Nichts von alledem.


Wo liegt der Grund f̈r den grossen Unterschied zwischen der 

Natur der Sache und ihrer sozialen Realiẗt? Dass Kinder und Ju- 
gendliche eine enorm hohe intrinsische Motivation haben, etwas 
zu lernen, steht auch f̈r den gr̈ssten Skeptiker vermutlich nicht 

in Frage. Kinder lernen von sich aus Laufen und Sprechen, im 
Alter von vier bis sieben l̈chern sie ihre Eltern oft pausenlos mit 

Fragen. Und auch danach gibt es wenige, die lange rasten oder 
ruhen, bis sie alle Funktionen ihres Smartphones verstanden 
und ausprobiert haben. Selbst Aufgaben, die nur mit halbem 

Engagement in Angriff genommen werden, wie zum Beispiel 
Vokabeln lernen, beẅltigen sie ḧufig besser als ein hoch





   2   3   4   5   6