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Schulblatt Thurgau 5 • Oktober 2014 F O K U S 5








m̈chte, l̈sst sich auch einiges dagegen tun. Denn vieles, was 
in unseren Schulen Usus ist, widerspricht elementar unserer INFORMATIONEN

Erkenntnis ̈ber die Gehirne Heranwachsender. Ein wichtiger 
Faktor ist zum Beispiel das Arbeitsged̈chtnis. In welcher Schule Das Kapitel «Gehirn und Entwicklung» stammt aus dem 
wird eigentlich ber̈cksichtigt, dass die Konzentrationsf̈higkeit Buch «Anna, die Schule und der liebe Gott»: Der Verrat des 

im Laufe eines Lebens nicht immer gleich entwickelt ist? Zudem Bildungssystems an unseren Kindern, Goldmann 2013 aus 
ist die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern und Jugend- der Feder des zeitgen̈ssischen Philosophen David Richard 

lichen gegen̈ber der von Erwachsenen deutlich begrenzter: Precht. Prechts Aufruf zur «Bildungsrevolution» wurde in den 
«So betr̈gt die F̈higkeit, sich am Sẗck zu konzentrieren, bei Feuilletons und in Bildungskreisen kontrovers diskutiert. 

sechsj̈hrigen Kindern lediglich 15 Minuten, bei neun j̈hrigen ©2013 Wilhelm Goldmann Verlag, M̈nchen, Verlagsgruppe 
Kindern 20 Minuten, bei elfj̈hrigen etwa 30 Minuten.» (Korte, Random House GmbH; ISBN: 978-3-442-31261-0
Martin: Wie Kinder heute lernen. Was die Wissenschaft ̈ber das 

kindliche Gehirn weiss, M̈nchen 2011, S. 53.)


Dass eine Schule, die diesen Befund ernst nimmt, nichts mehr mit 
den meisten unserer heutigen Schulen gemein haben kann, liegt 
auf der Hand. Zu den wichtigsten Einsichten der Lernforschung 

geḧrt der unmittelbare Zusammenhang zwischen Lernen und 
k̈rperlicher Bewegung. Wer sich k̈rperlich beẗtigt, geht, l̈uft 
ssa
oder herumtobt, sẗrkt dabei seine synaptischen Verkn̈pfungen. mo
Eine ganze Reihe von chemischen D̈ngern wird ausgescḧttet, s Ko
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die f̈r ein gutes Wachstum von Verbindungen sorgen. Nicht we- ld: 
nige Menschen haben ihre besten Einsichten beim Spazieren Bi
gehen oder Joggen, andere ben̈tigen einen Nachmittagsschlaf, 

um geistig fit zu bleiben etc. Wer sich bewegt, nimmt Informatio- Die Idee, dreissig Kinder ̈ber mehrere Stunden bei minimalen 
nen oft intensiver auf, als wenn er stillsitzt. Wie viele Lehrer in Pausen auf Sẗhlen in Sitzb̈nken zu verstauen, ist jedenfalls de- 

meiner Schulzeit haben sich dar̈ber aufgeregt, dass ich nicht finitiv nicht mehr zeitgem̈ss und nicht «gehirngerecht». K̈rper- 
ruhig auf meinem Stuhl sitzen konnte. Und mein Physiklehrer liche Passiviẗt ist ein hoher Stressfaktor, physisch wie psychisch. 

diagnostizierte sogar ein Intelligenzproblem, weil ich als einer der Wer optimal lernen will, muss in der Lage sein, zwischendurch 
Kleinsten meiner Jahrgangsstufe auf dem Stuhl gekniet habe. Pausen machen und sich bewegen zu k̈nnen, und zwar entspre- 
Dabei sind alle diese motorischen Bed̈rfnisse keine Defizite, chend eines eigenen individuellen Rhythmus und Bewegungs- 

sondern versẗrken im Gegenteil die Aufmerksamkeit.
bed̈rfnisses. Doch dass das in unserem Tayloristischen System 
nicht m̈glich ist, ist auch klar. Die problematischste Zeit im 

Hinblick auf die Konzentrationsf̈higkeit ist die der Puberẗt. In 
haben, etwas zu lernen, steht auch f̈r den gr̈ssten Skeptiker vermutlich nicht in Frage.»
dieser Phase bilden sich im f̈r ḧhere kognitive Leistungen ver- 

antwortlichen Stirnhirn Milliarden neuer Verkn̈pfungen. Von der 
Warte der Nervenverbindungen betrachtet, sind wir nie wieder 
so intelligent wie in der Puberẗt. Bedauerlich daran ist nur, dass 

uns das explosionsartige Wachstum im Gehirn so sehr ̈berfor- 
dert, dass wir oft sehr schlecht damit umgehen k̈nnen. Auf der 

einen Seite erleben wir die sensibelste und kreativste Phase 
unseres bewussten Lebens. «Man tr̈umt alles schon im Alter 

zwischen zehn und f̈nfzehn», sagte der belgische Chansonnier 
Jacques Brel. «Und dann versucht man ein Leben lang, einen Teil 
dieser Tr̈ume zu verwirklichen. Mit f̈nfzehn ist es vorbei.» Auf 

der anderen Seite sind wir unausgeglichen, launisch und sẗndig 
mit uns selbst ̈berfordert. Erst nach und nach schrumpft sich 

unser Gehirn wieder «gesund». Erfolgreiche Nervenbahnen blei- 
ben erhalten, andere werden abgebaut. Das wichtigste Kriterium 

bei diesem R̈ckbau ist der soziale Erfolg. Immerhin ist es der 
biologische Sinn der Puberẗt, die Geschlechterrolle anzuneh- 
men und einzüben und sich dabei vom Elternhaus und anderen 

Autoriẗten zu l̈sen – mithin ein selbstsẗndiger Mensch zu wer- 
den. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass wir in diesem 

Alter kaum von unseren Eltern lernen, sondern ̈berwiegend von 
Gleichaltrigen. Das aber kann nach Massgabe unseres neuro- 
wissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Wissens 
er
nur bedeuten: Kinder in der Puberẗt geḧren eigentlich nicht ng
in die Schule!
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